E-Scooter werden an Haltestellen zum Problem für Blinde

Auf dem Blindenleitsystem einer Haltstelle abgestellte E-Scooter. Foto: Dieter Leder

„Sei frei und lass den Verkehr hinter Dir“, propagiert Sharing-Dienstleister TIER sein Verkehrsverständnis und zukunftsweisendes Mobilitätskonzept mit E-Scootern, es klingt fast so als würden für TIER und seine Kunden im täglichen Verkehrschaos und im ohnehin schon beengten öffentlichen Verkehrsraum keine Regeln gelten: Die Freiheit des Einzelnen scheint dabei grenzenlos zu sein. Doch auch für die endet die eigene Freiheit erstmal dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Darauf weist der Orientierungs- und Mobilitätsexperte Gregor Köwing mit einer einfachen Forderung an alle Verkehrsteilnehmer hin: „Ein freier Weg ist wichtig.“ Das sehen nicht alle so, die einen wollen es nicht sehen und die anderen können es nicht sehen, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit können E-Scooter ein unüberwindbares Hindernis darstellen, von dem auch Verletzungsgefahr ausgehen kann.

Bodenleitsysteme sind wichtig für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit

Köwing lehrt Lebenspraxis und unterrichtet schwerpunktmäßig Orientierung und Mobilität an der Schloss-Schule in Ilvesheim, dort werden Kinder und Jugendliche mit einer Sehbehinderung, mit hochgradiger Sehbehinderung oder gar mit Blindheit gefördert und ausgebildet. „Es ist Standard, es passiert jeden Tag“, so Köwing, wenn andere Verkehrsteilnehmer die für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit zur Orientierung wichtigen Bodenleitsysteme zuparken oder zustellen: „Land auf, Land ab, immer das selbe Bild.“ Er klingt dabei verständnisvoll und liefert auch gleich eine Begründung, weshalb viele andere Verkehrsteilnehmer für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit zum Hindernis werden: „Viele wissen gar nicht, was ein Bodenleitsystem ist und welche Bedeutung es für Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit hat.“

Bodenleitsysteme sind optisch und taktil kontrastierende im Boden verbaute Rillen- und Noppenplatten, die von Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit mit Hilfe ihres Blindenstocks ertastet werden können und dabei eine Vielzahl an Informationen liefern, etwa wo der Bus hält, wo sich die Tür öffnet oder wo sich eine Ampel befindet. Bodenleitsysteme geben den Menschen Orientierung im öffentlichen Raum, sie stellen ihre Barrierefreiheit dar – wenn die Leitsysteme nicht zugeparkt oder zugestellt sind. Dann beginnen die Probleme, wenn der Blindenstock trotz der durch das Bodenleitsystem angezeigten Barrierefreiheit auf ein unerwartetes Hindernis trifft oder wenn die Menschen direkt gegen das Hindernis prallen, wie Köwing erklärt: „Wenn ich als Betroffener die neue Situation auf Grund meiner Behinderung nicht einschätzen oder lösen kann, brauche ich Hilfe.“ Dann müssen andere eingreifen und helfen und die Situation für den Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit klären. Und genau das sollte eigentlich nicht passieren.

Häufig zugestellte Blindenleitsysteme

Und es passiert doch: Traditionell sind die kurz haltenden Fahrzeuge der Lieferdienste oder parkende PKWs ein großes Problem auf Blindenleitsystemen, wie Köwing ausführt. Und neuerdings auch E-Scooter, die auch als Elektro-Scooter oder Elektro-Tretroller bezeichnet werden. Die sollen zwar auf Radwegen oder auf der Straße fahren, geparkt und abgestellt werden sie aber auf dem Gehweg: Und zwar so, dass Fußgänger und Rollstuhlfahrer nicht behindert oder gefährdet werden. In der Praxis aber sieht es anders aus, die Scooter werden dabei oftmals zu potentiellen Hindernissen für Fußgänger. Nicht nur achtlos abgestellte Scooter nach der Fahrt werden zum Hindernis, sondern insbesondere auch vom Anbieter nach der Wartung zur Verfügung gestellte Scooter vor dem ersten Fahrtantritt.

E-Scooter werden immer mehr zum neuen Mobilitätsbaustein in den Städten und als Zu- und Abbringeverkehr im Zusammenspiel mit einer Fahrt mit Bus und Bahn mit in das städtische Mobilitätskonzept der lokalen Verkehrsbetriebe eingebunden. Seit dem der Berliner Sharing-Dienstleister TIER in Kooperation mit dem Verkehrsverbund Rhein-Neckar seine Scooter in mehr- und vielfacher Anzahl in Erwartung eines Fahrgastes vermehrt an Haltestellen abstellt, wird es eng an den Haltestellen in der Metropolregion: Insbesondere wenn mangels Platz die fahrbereiten Scooter dann noch auf Blindenleitsystemen abgestellt werden.

Auf dem Blindenleitsystem einer Haltstelle abgestellte E-Scooter. Foto: Dieter Leder

„Alle TIER-Mitarbeiter erhalten regelmäßige Schulungen, um sie zu sensibilisieren, dass beispielsweise Blindenleitsysteme immer frei bleiben müssen und die Fahrzeuge so positioniert werden, dass sie nicht zum Hindernis für Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer werden“, sagt ein Pressesprecher von TIER zu dieser Problematik. Auch verweist er auf Erklärbilder in der TIER-App, die auf die wichtigsten Benutzungs- und Verhaltensregeln hinweisen: „Diese beinhalten unter anderem einen Hinweis zu korrektem Abstellen und rücksichtsvollen Parken der Scooter nach Beendigung der Miete.“ Zudem möchte TIER in Zusammenarbeit mit den Blinden- und Sehbehinderten-Verbänden gemeinsam für mehr Rücksicht werben und mit verschiedenen Maßnahmen und Aktionen die Aufmerksamkeit seiner Nutzer auf die Bedürfnisse Menschen mit einer Sehbehinderung oder mit Blindheit lenken.

Schnelle Reaktion bei Problemen

Dass TIER das Anliegen dieser Menschen ernst meint, zeigt ein kürzlicher Vorfall an der Haltestelle Mühldorferstraße in Mannheims Vorort Schwetzingerstadt. Dort stellte ein besonders ordnungsliebender TIER-Mitarbeiter vier Scooter akkurat in Reih und Glied passgenau auf das Blindenleitsystem im Haltestellenbereich. Auf den Hinweis einer aufmerksamen Bürgerin auf diesen Fehler reagierte die TIER-Zentrale in Berlin schnell und ließ die Scooter umgehend beiseite räumen, so dass das Blindenleitsystem schon nach kurzer Zeit wieder uneingeschränkt benutzbar war.

Köwing nennt die Reaktion erfreulich, und doch wünscht er sich, dass es erst gar nicht hätte so weit kommen brauchen. Die Blindenleitsysteme müssen frei bleiben, mahnt er und wiederholt seine Forderung: „Ein freier Weg ist wichtig.“

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